Die Schockstarre löst sich …

Die Schockstarre löst sich…

die Vertreter der zukünftigen Jamaikakoalition agieren schon, kalkulieren, optionieren, wägen ab.
Ja, das erwarten wir ja auch von unseren Ge-und Erwählten.
Der eigene Denkraum bewegt sich aus der Schockstarre “O Gott, das darf doch nicht wahr sein; soooo viel für die AFD“, zum Vorsichtigen: „Mal sehen, was das bringt, jedenfalls sind die Karten neu gemischt“; sich Raum zu verschaffen, es stellt sich vielleicht sogar die Bereit¬schaft ein nun doch aktiver am politischen Geschehen zu werden, die Trägheit aus Zeiten der Gro¬Ko hat keine Berechtigung mehr. Die Wahlergebnisse von Österreich und Tschechien, obwohl dort wesentlich extremer, schocken schon nicht mehr ganz so hart.
Nun, ich hör euch schon rufen: Gut und schön, aber was hat das alles mit der Sozialen Arbeit und / oder gar mit systemischen Denken zu tun?
Unsere Anschlußfägigkeiten sind gefragt, unser „man kann ja eh nichts ändern“ Schulternzucken lässt sich nicht mehr mit „Kontingenz“ erklären. Die zum Ringen angetretenen Parteien wollten in ihren Wahlprogrammen im Bereich „Soziales“, „Arbeit“, „Integration“ und „Inklusion“ manch brauchbares, hoffnungsvolles; es wird Zeit nun von seiten der Sozialen Arbeit zu formulieren, was es für Bedarfe gibt, welche Qualität Soziale Arbeit hat und wie diese auch in Zukunft erhalten wer¬den kann. Das Zusammenfinden der drei neuen Farben ist auch Emergenz und fordert die Bereit¬schaft Neues auch zu formulieren.
Beteiligtsein und -werden wird wohl nun der Maßstab werden, an dem soziales Arbeiten in Theo¬rie und Praxis (obwohl es diese Trennung gerade im systemischen Denken kaum geben kann) ihre Qualität schärfen wird. In den Zeiten der GroKo hatte ich den Eindruck, dass sich die Bereiche der sozialen Versorgung „in der Breite“ einrichteten, Märkte wurden erschlossen und definiert; manche Wildheit der Ökonomisierung um die Jahrhundertwende fand ihren Platz in der Behäbigkeit von Or-ganisationsentwicklung und Platzfindung. Die Herausforderungen durch die große Anzahl von Flüchtlingen und die folgenden Fragen der Integration ließen das Management der sozialen Dienste etwas aufschrecken, doch war man schon auch sehr froh, dass die Anstrengungen der bürgerlichen Selbsthilfe die Stressspitzen stark abflachten, die Bereitschaft rasch und unkompliziert Hilfsstruktu¬ren zu entwickeln, blieb lange Zeit den örtlichen Helferkreisen vorbehalten. Manchmal hatte man auch ganz erstaunt den örtlichen und regionalen Behörden zugesehen, wie rasch und handlungssi¬cher diese auftraten und Hilfestrukturen schafften, gelegentliches administratives Versagen wurde skandalisiert, oft zurecht, manchmal auch genüsslich.
Die kommenden Monate werden zeigen, wie die Gemengenlage von örtlichen Helferkreisen, be-auftragten Wohlfahrtsverbänden und öffentlicher Verwaltung nicht nur im Bereich der Flüchtlings¬hilfe sondern auch in anderen Bereichen der sozialen Arbeit „Hefe im Sauerteig“ der Entwicklung sein wird. Ein Beispiel hierzu: Die Meinung, dass die Hilfebereitschaft im Umgang mit den Flücht¬lingen, die Sorge um die „eigenen Armen“ verkleinern ließ und dass u.a. auch deshalb die AFD einen solchen Zulauf bekommen hätte (was im Übrigen nicht stimmt), lässt vermuten, dass es auch vor dem Flüchtlingszustrom ein gewisses Ausmaß an bürgerlichem Engagement gegeben hätte, Ar-mutsbekämpfung zu betreiben. Die periodisch erscheinenden Armutsberichte, zuletzt von der Ber-telsmannstiftung, sind nicht nur der empirisch erhobene gesellschaftliche Skandal, sondern zuerst mal Auftrag nachzudenken, welcher Art von öffentlicher Verantwortung für die soziale Sicherheit gegenwärtig und für die Zukunft notwendig wird. Als Beispiel sei die Kinderhilfe angeregt; der ra¬pide Anstieg der Kinderarmut ist sicher auch dem Kinderzuzug im Geschehen mit den Flüchtlingen verbunden, aber viel mehr besorgniserregend ist doch, dass die soziale „Vererbung“ von Armut nun seit Generationen bereits anhält. Das Abgehängtsein von Bildungsprozessen und beruflichen Per¬spektiven ist zu einer Sozialisationsgrunderfahrung besonders in den Großstädten geworden. „Hart¬zen“ als Berufsperpektive zum zynischen Witz. Hier gilt es zu überlegen, ob die Kinder- und Ju¬gendhilfe nicht von der Hilfe für die Eltern abgekoppelt werden sollte, also die finanziellen Mittel nicht mehr zum Familieneinkommen werden. Es ist doch ein Skandal, dass z.B. das Kindergeld bei Hartzbezug angerechnet wird, die Kinder somit zu ihren eigenen Mitteln keinen Zugang bekom¬men.
Selbstverständlich gehört in diesem Zusammenhang die Diskussion der Einkommen insbesondere der niedrigen Lohngruppen, besonders bei zeitlich befristeten und Leiharbeitverträgen dazu. Das Auseinandertriften der Einkommensschere hat das Maß der Unerträglichkeit schon lange erreicht.

Das Beispiel steht für Vieles; Fragen zum internationalen Zusammenwirken Sozialer Arbeit gerade jetzt in Zeiten der sogenannten Erfolge der populistischen Marktschreier drängen sich auf. All diese werden an der Schraube der sozialen Sicherung drehen, wie es in den USA sofort nach dem Administrationswechsel geschehen ist, auch in Österreich wurde es bereits angekündigt.
Es wird kälter werden, viel kälter und es wird, wie immer, die Soziale Arbeit und deren Legitimation nachgefragt sein, die Lampe der gesellschaftlichen Wachsamkeit und Solidarität zum Glühen zu bringen.

Mit solidarischen Grüßen
Hubert Jall, Füssen

2 thoughts on “Die Schockstarre löst sich …

  1. Raus aus dem Tunnel

    Raus aus dem Tunnel auf die AFD zu starren. Raus aus dem Tunnel der moralischen und politischen Überlegenheit!
    Systemische Tugenden aktivieren:

    1. Anerkennen
    Zunächst hat eine demokratische Wahl, demokratische Repräsentanz und für die Demokratie relevante Kommunikation ermöglicht. Offensichtlich bilden die das mögliche Jamaika-Bündnis tragenden Parteien die Mehrheit der Bevölkerung ab. Genau so funktioniert und legitimiert sich Demokratie. Da sind jede Menge unterschiedlicher Vorstellungen über „das Soziale“ versammelt.
    Mal sehen, wie sie das gestalten.

    2. Das Beziehungsmuster erkunden
    Soziale Gerechtigkeit ist nicht die Form, unter der das einigende Band des sozialen Zusammenhalts firmiert. Relevante Teile der Bevölkerung folgen anderen „Grunderzählungen“.
    Nach meiner Meinung hat sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht für die Idee und das Ziel der „Sozialen Gerechtigkeit“ ausgesprochen. Man mag soziale Gerechtigkeit für wichtig halten und auch befürworten, aber viele Leute halten das wohl für ein Thema das „Andere“ bevorzugt. Das Thema soziale Gerechtigkeit bildet wahrscheinlich für sie kein verbindendes Band mehr, sondern thematisiert eher Unterschiede. Von der Idee und dem Titel wird wenig zukunftsverändernde Kraft erwartet.
    Wenn soziale Gerechtigkeit nicht mehr als Legitimationsbasis und Referenzrahmen für alle Bürgerinnen und Bürger taugt, ändern sich die Grundlagen für die Soziale Arbeit m.E. dramatisch.

    3. Reflexivität starten und an die Kybernetik 2. Ordnung denken.
    Wie wirken unsere Entscheidungen der Beobachtung und des Kommunizierens auf das soziale Feld aus? Wie wirken wir, d.h. Vertreter der Sozialen Arbeit, auf die soziale (politische) Kommunikation ein?
    Ich halte den Beitritt von Herrn Schneider als Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und diverser anderer Sozialverbände in die Partei „Die Linken“ ebenso wenig für passend, wie das SPD-Bashing des Berufsverbandes DBSH vor der Wahl.
    Natürlich gibt es politische Konflikte und Auseinandersetzungen – auch innerhalb der Sozialen Arbeit.
    Nur, wer nimmt mit welcher Legitimation Stellung? Mit welchen Effekten ist zu rechnen?
    Die Fragen sind: wo und wie werden die Diskurse und wie die notwendigen fairen Arenen geschaffen?
    Wilfried Hosemann

  2. Hallo,

    das Ende der Jamaika-Gespräche gibt schon zu denken.

    Die Frage der Integration der Gesellschaft scheint auf einer höheren und bedeutenderen Ebene zu sein als Einzelziele.
    Verbindungen (Relationen) herstelllen zu können, wird wichtiger.

    Für die Soziale Arbeit wird deutlicher, dass Soziale Gerechtigkeit kein allgemein verpflichtendes (anzustrebendes) ZIel ist, dass auch belastbaren Einsatz erfordert.

    Konflikte, die Suche nach Identität und der Umgang mit höchst unterschiedlichen (unvereinbaren) Identitäten werden wahrscheinlicher und die Voraussetzungen der Sozialen Arbeit betreffen.

    Ich hoffe, wir (die Soziale Arbeit) können unsere wesentliche Mitverantwortung gut schultern.

    Wilfried Hosemann

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